Wer auf der Autobahn
durch das Val canale, und, ab Pontebba, durch den Canale del ferro fährt,
wird die Erfahrung des Vorübergehenden, des Flüchtigen machen.
Diese Täler durchquert man ja tatsächlich fast nur als Passagier,
der sich, anders als ein Reisender, durch ein Ziel definiert, das anderswo
liegt: Rumänische Kleinbusse transportieren Personal nach Italien,
das zu geringen Löhnen in Restaurants und Haushalten arbeiten wird.
In rußenden Bussen streben polnische Pilger nach Rom. Das Ziel der
sommerlichen Autokolonnen ist das Meer. Wenn der letzte Tunnel durchfahren
ist, öffnet sich die friulanische Ebene, und der plötzliche,
fast theatralische Szenenwechsel lässt eine Vorahnung von südlicher
Weite entstehen.
Aber das Gefühl des Flüchtigen entsteht nicht nur durch die
Bewegung der Passagiere, sondern den Tälern selbst haftet etwas Vorübergehendes
an. Wie Kulissen säumen die Fassaden verlassener Häuser das
Tal. Die Landschaft scheint sich förmlich abzuwenden. »Eine
unheimliche Front wie das Haus vor meinem Fenster in Triest« sieht
der Dichter Helmut Eisendle in einem der Seitentäler. Schon die im
16. Jahrhundert ausgebaute Fernstraße wurde »schräger
Durchgang« genannt, und der Name Kanaltal hat seine Wurzel im Friulanischen:
Cjanal bezeichnet enge, schlauchartige Täler, also Räume, die
eher der Durchleitung als dem Aufenthalt dienen. Kurz vor Chiusaforte
meint der Benützer der Autobahn sogar, durch die Trassenführung
optisch getäuscht, zwei parallele Autobahnen vor sich zu haben. Der
»schräge Durchgang« scheint ein Archetyp jener Orte zu
sein, die in den Kulturwissenschaften als »transitorische Räume«
bezeichnet werden, »Orte ohne Selbst«, wie sie der Philosoph
Peter Sloterdijk in einem Interview nennt, Orte, die ihre »Passanten
nicht halten.«
Mag der »schräge Durchgang« denen, die ihn heute zur
schnellen Passage benützen, als eigenschaftslos erscheinen, so hat
er dennoch ein faszinierendes Selbst. Es ist, als ob er seine verwickelte
Geschichte gerade in ihrem Verschwinden bewahrt. Wenn südlich von
Chiusaforte gleich fünf Brücken sichtbar werden, die nebeneinander
die Fella überspannen, kommen die Schichten dieser Geschichte in
den Blick: die zwei Brücken der Autobahn, die Brücke der Autostraße,
die Brücke der alten Straße und die Brücke, auf der die
Eisenbahn den Fluss querte, ehe sie im Jahr 2000 als Hochleistungsstrecke
in 13 Tunnels mit einer Gesamtlänge von 46 km verlegt wurde, das
sind immerhin 48 Prozent der Strecke von Udine bis Tarvis. Die Autobahn,
die ihrerseits über 49 Brücken und durch 18 Tunnels verläuft,
wurde in den Jahren 1973 bis 1986 gebaut. Wer dem Selbst der Gegend nahe
kommen will, wird von der Autobahn auf die Autostraße abfahren müssen.
Von ihr aus gesehen gewinnt sogar einen eigenen ästhetischen Reiz,
wie sich die Autobahn, die alte Eisenbahn, die Straße und der Fluss
immer wieder gegenseitig kreuzen.
Auf der Autostraße sind Generationen von Kindern mit ihren Eltern
im voll bepackten Auto nach Rimini und Cesenatico, nach Caorle und Grado
in den Urlaub gefahren. Die alte Grenzkontrollstelle bei Thörl-Maglern,
der eigentliche Beginn des Urlaubsabenteuers, wäre noch funktionstüchtig,
würde der Schengen-Vertrag ausgesetzt. Wie ein aufgelassener Bahnhof
mit Bogenlampen und staubigen Fensterscheiben, durch die man die Reste
eines Zollsaales sieht, scheint sie auf ihre Entdeckung als Filmkulisse
zu warten. Und nach der Grenze wird die Welt tatsächlich noch immer
fremd: Alte Bauernhäuser sind mit Blech gedeckt, die größeren
Gebäude, zum Beispiel die ehemalige Stazione Tarvisio Centrale, folgen
einem eigenwilligen, spitzwinkeligen Alpinstil, selbst die Betonmauern
am Straßenrand sind von dunklerer Farbe.
Die Bewohner des »schrägen Durchgangs« haben mit den
Durchreisenden ein Geschäft gemacht, ehe die Autobahn sie wegkanalisierte.
Heute säumen die Ruinen von Supermärkten die Straße, in
denen man bei der Rückfahrt noch rasch einen billigen Pullover oder
jene Kiste Wein kaufte, die den Vater bei der Zollkontrolle zur verlegenen
Lüge zwang. Der in Kärnten sogenannte »Fetzenmarkt«
in Tarvis, früher eine bunte Ansammlung improvisierter Marktbuden
auf morastigem Untergrund, ist längst geordnet worden. In Resiutta
haben sich einige Hühnerbratereien und ein chaotisches Geschäft
mit Souveniers und Gartendekorationen erhalten. Das International shopping
center am südlichen Ortsausgang von Tarvis ist ein Denkmal der Konsumträume
der 60er Jahre.
Was der Straßenbau dem Tal angetan hat, kann man in Pontebba besichtigen.
Führt schon die Autostraße auf Stelzen in Fensterhöhe
an den oberen Etagen der Häuser vorbei, so hat eine Autobahnabfahrt
den Ort restlos abgeschnürt. Ihre monströse Dimension lässt
sich eigentlich nur durch eine Mentalität erklären, die in der
jüngeren Kulturgeschichte Italiens tief verankert ist. Wie schon
in Deutschland, wo man die Autobahnen als die »Pyramiden des tausendjährigen
Reiches« bezeichnete, wurde die Automobilisierung der Nation vom
italienischen Faschismus als kulturpolitisches Projekt begriffen: Die
autostrade bezeichnete Mussolini in seinen Reden als »imperiale
Straßen«, die an die Geschichte der römischen Straßen
anknüpfen, die Überlegenheit der Nation demonstrieren und das
Volk zur Einheit verschmelzen sollten. Der Futurismus als einflussreiche
Hintergrundideologie, jener philosophische Kult der Maschine und der Geschwindigkeit,
degradierte, wie es in einer Studie von Franz Becker heißt, »die
Natur zu einem abstrakten Raum, der keine andere Funktion mehr hatte,
als es den Fortbewegungsmaschinen zu erlauben, ihre Geschwindigkeit zu
entfalten.« In Deutschland legten 330.000 Menschen im Rahmen einer
eigenen Ansparaktion monatlich fünf Mark für einen Volkswagen
zurück, und in Italien lebten die kleinen Leute in Erwartung ihrer
privaten Mobilmachung. Aber hier wie dort konnte die angekündigte
Massenmotorisierung bekanntlich nicht verwirklicht werden. Als sie dann
in den 60er Jahren tatsächlich in Gang kam, brach sich ein enormes
Wunschpotenzial im Wortsinne seine Bahn. Man war bereit, die Welt als
bloßes Durchgangsgebiet für das Auto zu betrachten. Aus dieser
Dynamik ist jene Mentalität erklärbar, aus der heraus man eine
Hochstraße sogar vor die alte Hafenfront von Genua gestellt hat.
Und noch immer wird in Italien das Chaos auf den Straßen auch als
Zeichen von Vitalität interpretiert. Fast lustvoll sitzt man im Stau
und drängt sich am Pannenstreifen nach vorne.
In Pontebba führt die Autobahnabfahrt vierspurig an leerstehenden
Eisenbahnerwohnhäusern aus den 50er Jahren und einem riesigen Bahnhofsgebäude
vorbei und auf ein grellorange gestrichenes Haus zu, das die »Bar
Zug« beherbergt. Pontebba, bis 1918 Grenzort zwischen Italien und
Österreich-Ungarn, war bis zum österreichischen EU-Beitritt
die Zollstation der Eisenbahn auf italienischer Seite gewesen. Auf dem
Güterbahnsteig mit Laufgittern, der im Bahnhof vorläufig noch
übrig geblieben ist, wurde das importierte Vieh veterinärmedizinisch
untersucht.
Wie die Eröffnung der Autobahn im 20. Jahrhundert hatte die Fertigstellung
der Bahnstrecke zwischen Tarvis und Udine 1879 gravierende Auswirkungen.
»Durch die Eisenbahn wird der Raum getötet, und es bleibt uns
nur noch die Zeit übrig«, schrieb schon Heinrich Heine. Was
bei Heine auf die Erfahrung der Reisenden zielt, hatte für die Bewohner
des »schrägen Durchgangs« ganz konkrete Folgen. Ihr Lebensraum
wurde radikal umgestaltet. Fuhrleute und Schmiede verloren ihr Geschäft.
Straßendörfer begannen zu veröden. Über stählerne
Brücken, die heute wie Industriedenkmäler erscheinen, rollten
Menschen und Güter vorbei, denen die Täler gleichgültig
waren. Die heutige Bahnstrecke steuert kaum noch lokale Bahnhöfe
an. Auf der Trasse der alten Bahn verläuft ein Radweg.
Schon im 19. Jahrhundert wurde der Tourismus wichtig. Vor dem Ersten Weltkrieg
verkehrten fünfmal täglich Expresszüge von Wien nach Oberitalien,
wobei die Reisezeit nach Venedig 13 bis 15 Stunden betrug. Die Züge
sind heute schneller, aber diese hohe Frequenz wird nicht mehr erreicht.
Ein Reisehandbuch aus dem Jahre 1909 äußert ein Lob, das durchaus
auch heute gültig ist, wenn man sich von den Verkehrsbauten und dem
kargen Schotterboden des Talgrunds abwendet. Unversehens öffnet sich
dann ein fruchtbares Hinterland auf den Endmoränen der eiszeitlichen
Gletscher: »Das Kanaltal, eines der herrlichsten Gebiete Kärntens
und der Alpen überhaupt, (…) ist wie geschaffen für Touristen,
welche den gebahnten Weg nicht gerne verlassen und mit Bedacht auf die
Befriedigung leiblicher Bedürfnisse ohne viel Anstrengung viel sehen
wollen, bietet aber auch jenen, die Mühe und Strapazen nicht scheuen,
eine Fülle erhabener Schönheiten.«
Ein Passagier auf der Autobahn würde es kaum glauben, dass das Kanaltal
auch heute noch zu den wichtigsten Wintersportregionen Italiens gehört.
Zwischen Tarvis und Valbruna sind Seilbahnstationen in die Landschaft
betoniert. Trotz des eher rauen lokalen Klimas – die Waldgrenze
befindet sich hier in 1.500 Meter Höhe, während sie nördlich
in den Alpen oft erst in 1.800 Meter verläuft – müssen
die Pisten meist künstlich beschneit werden. Im Tal sind schrebergartenartige
Hütten, Restaurants, Hotels und Appartmentbauten in der Landschaft
verstreut. Das ästhetische Prinzip des Durcheinanders kulminiert
in den Devotionalienhandlungen am Monte Santo di Lussari, rund um die
Wallfahrtskirche aus dem Jahre 1360, die heute mit einer neuen Seilbahn
erreichbar ist.
Der Bau der Eisenbahn bedeutete auch einen Aufschwung für den Bergbau.
In Cave del Predil wurde seit dem 15. Jahrhundert Blei und Zink abgebaut.
Im Museo Etnografico in Malborghetto sieht man ein Modell der heute stillgelegten
Bergwerksanlage, einen nachgebauten Stollen und die Festuniformen der
Bergleute. Das Museum dokumentiert auch die Bedeutung eines anderen Industriezweigs:
Zum Teil mit mobilen Seilbahnen oder gezogen von Pferden wurde Holz zu
den wassergetriebenen Sägewerken im Tal gebracht und mit der Bahn
weitertransportiert. Der alte, ausgestopfte Bär im zweiten Stock
des Museums wird vielleicht von Ferne einen damit zusammenhängenden
Karnevalsbrauch beobachtet haben: Beim sogenannten »Blochziehen«
wurde ein blumengeschmückter Baumstamm auf einem Schlitten zu Tal
gezogen, mit der Aufschrift: »Trauer der Jungfrauen – Freude
der Burschen«, gleichsam ein lokaler historischer Sexismus: Die
Jungfrauen haben noch keinen gefunden, und die Burschen sind froh, davongekommen
zu sein.
Das Gebäude, in dem das Museo Etnografico untergebracht ist, ist
selbst ein Denkmal der Bedeutung der alten Straße: Der Palazzo Veneziano
von 1593, zuerst im Besitz der Familie Paul, in die ein Adeliger aus venezianischer
Familie einheiratete, ab 1878 Hotel, mit einer schönen Hofseite und
Arkaden, zeugt vom Wohlstand der Unternehmer im Tal. Hammerwerke lieferten
zum Beispiel Anker nach Venedig, auf der 1520 ausgebauten Straße
transportierten die Fuhrleute Vieh, Getreide, Eisen, Blei, Pech für
den Schiffsbau nach Süden und nahmen in der Gegenrichtung Olivenöl,
Seide, Wein und Safran mit. Die charakteristischen langen Straßenzeilen
in den Dörfern, durch die sie sich von den Haufendörfern im
Hinterland unterscheiden, zeugen vom Zweck der Siedlungen, dem Transit
allerlei Dienstleistungen anzubieten. Ab 1822 wurde die alte Fernstraße
unter dem Hofbaurat Hermengild Ritter von Francesconi, bei dem der Erbauer
der Semmeringbahn Carl Ritter von Ghega in die Lehre gegangen war, gründlich
erneuert und neu trassiert.
Schon die alten Römer nutzten den »schrägen Durchgang«.
Eine Römerstraße, die sich in der Nähe von Venzone einerseits
Richtung Plöckenpass und andererseits der Fella folgend gabelte,
verband Aquileia mit der Provinz Noricum. Reste der Straße sind
in Coccau und zwischen Chiusaforte und Dogna, hier am linken Ufer der
Fella, noch zu sehen. Larix im Gebiet von Camporosso war ein wichtiger
Stützpunkt, situiert an der kaum merkbaren Wasserscheide, einer der
niedrigsten der Alpen, von der aus das Wasser nördlich in die Gailitz,
in die Drau und Donau und schließlich in das Schwarze Meer, südlich
in die Fella und über den Tagliamento in die Adria fließt.
Zur Zeit der Völkerwanderungen waren die römischen Verbindungen
unterbrochen und die Täler weitgehend entsiedelt. Im 6. und 7. Jahrhundert
zogen Slowenen aus dem nördlich gelegenen Gailtal herbei. Eine verstärkte
Besiedelung aus deutschen Landen begann, als um die Jahrtausendwende Kaiser
Heinrich II. dem Bistum Bamberg die Herrschaft über das Kanaltal
verlieh. Es bildeten sich dessen Hauptorte heraus. Tarvis blieb lange
eine romanische Sprachinsel. Die Tatsache, dass die unterschiedlichen
Sprachgebiete nicht zusammenhängend waren, sondern sich verschiedensprachige
Siedlungen im Talverlauf abwechselten, führte zur sprachlichen Vermischung.
In einer Ausgabe der geschichtswissenschaftlichen Zeitschrift »Carinthia«
aus dem Jahr 1815, zitiert in einer lesenswerten Materialsammlung von
Heinz Krabina, heißt es: »Der Karakter der Kanalthaler (…)
erinnert nur wenig an den teutschen und wendischen Kärntner. Die
teutsche, windische und italienische Sprache wird hier untereinander gemischt
in schlechten Mundarten gesprochen.«
Der Nationalismus im 19. und im 20. Jahrhundert hat sich an die Entmischung
gemacht. Hans Kitzmüller fasst die Folgen dieser Art von Flurbereinigung
für ganz Friaul zusammen: Sie »…waren in bezug auf die
Sprachenvielfalt verheerend: In Ostfriaul schwanden die Deutschkenntnisse,
das Slowenische wurde als etwas fremdes betrachtet (so fremd, daß
auch alle Personen- und Ortsnamen slawischer oder auch deutscher Herkunft
italienisiert werden mußten), das Friulanische wurde als Ausdruck
einer unbedeutenden Bauernkultur mißachtet.« Der Nationalsozialismus
und der Faschismus begriffen die Entmischung als technische Aufgabe: 1939
kamen Mussolini und Hitler überein, die deutsch sprechenden Einwohner
des Kanaltals, die sich nach dem Friedensvertrag von Saint Germain 1919
in Italien wiedergefunden hatten, ab- und ins Reich heim zu siedeln.
Was den Nationalisten, Faschisten und Nationalsozialisten bekämpfenswert
erschien, macht noch heute eine Faszination des »schrägen Durchgangs«
aus: In Tarvis sieht man den Geschäftsnamen »Altersberger«
neben einem »Gasthaus Al Sole«, in Bagni di Lusnizza ein »Albergo
Edelweiss«. Freilich sind in den Geschäften auch Flaschen mit
den Aufschriften »Mussolini-Wein« oder »Hitler-Wein«
zu haben. Hier treffen also offenbar Kulturkreise aufeinander, hier werden
nach wie vor vier Sprachen gesprochen: Slowenisch, Italienisch, Friulanisch
und Deutsch. Vielleicht hat die langsam zunehmende Tendenz in Italien,
diese Vielfalt als Qualität wahrzunehmen, mit der Tatsache zu tun,
dass Italien insgesamt vergleichsweise viele sprachliche Minderheiten
beherbergt: Albaner, vor allem in Süditalien und Sizilien, zwei griechische
Sprachinseln in derselben Gegend, es wird auch Serbokroatisch und Französisch
gesprochen, und dann natürlich Sardisch, Deutsch, Slowenisch, Friulanisch.
Im Kanaltal gibt es mehrere slowenische Chöre und einen Kulturverein,
der sich um die Erhaltung altkärntner Traditionen bemüht. Das
Zusammenleben ist ohne nennenswerte Konflikte.
Östlich von Malborghetto unterquert die Autostraße eine vorspringende
Felsformation, die das Tal einengt. Auf ihr sind Reste von Befestigungen
zu sehen. Gleich rechts nach dem Tunnelausgang bewacht ein lebensgroßer,
an ein Schild gelehnter schlafender Löwe aus Gusseisen eine große,
dreieckige Gedenktafel mit der deutschen Aufschrift: »Zur Erinnerung
an den Heldentod des k. k. Ingenieur Hauptmanns Friedrich Hensel am XVII
Mai MDCCCIX und den mit ihm gefallenen Kampfgenossen. Kaiser Ferdinand
I.« Das Denkmal erinnert an einen anderen Typ von Passanten, an
oftmalige Benutzer des »schrägen Durchgangs«: die Soldaten.
Dreimal kamen die Türken über den Predilpass und äscherten
1492 sogar Tarvis ein. Während der Napoleonischen Kriege musste sich
eine 150.000 Mann starke französische Armee den Durchweg schwer erkämpfen.
Ferdinands Dank richtet sich an eine Truppe von 300 Mann, die diese Armee
vier Tage lang aufhielt, indem sie das Fort Malborghetto bis zum letzten
Mann verteidigte. Hauptmann Hensel, ihr Kommandant, bewies seine klassische
Bildung und einigen Realismus, als er sagte: »Es wird mein und meiner
Gefährten Grab sein, dieses Fort; aber ein herrliches Grab, wie das
des Leonidas und seiner Spartaner bei Thermopylä.« Den Kern
des schwachen Forts bildeten nämlich zwei hölzerne, auf zwei
Meter hohen Steinsockeln gebaute Blockhäuser, deshalb nennt man die
Anlage oft romantisierend »das Blockhaus von Malborgeth«.
Der französische Kommandant, Prinz Eugène Beauharnais, Stiefsohn
Napoleons aus der ersten Ehe seiner Frau Joséphine, der später
Andreas Hofer erschießen lassen sollte, hatte sich dagegen bequem
im schon erwähnten Palazzo Veneziano einquartiert. Bei den Kämpfen
und der Erstürmung am 17. Mai 1809 nahmen Hensel und seine Gefährten
1.300 französische Soldaten mit in den Tod.
Die fortartigen Betonmauern, die heute zum Beispiel im östlichen
Teil von Malborghetto sichtbar werden, gelten einem anderen Feind: Es
sind gigantische Rückhaltebecken. Im »schrägen Durchgang«
haben sich nicht nur Menschen vermischt, es vermischen sich auch die Klimazonen.
Feuchte Winde von der Adria überlagern oft in der Höhe das alpine
Klima im Tal, und dieses Aufeinandertreffen führt zu Starkregen,
der Rinnsale plötzlich in Wildbäche verwandeln kann. 2003 zerstörten
Wasser, Muren und Gerölllawinen Teile von Ugovizza und Malborghetto,
auch die neue Bahnlinie war wochenlang unterbrochen. Der Vergleich alter
und neuer Landkarten zeigt, wie schnell das Wasser die Täler verändert.
Fella und Tagliamento, die im Frühjahr zu reißenden Strömen
werden können, schütten immer wieder neue Inseln auf. Erdbeben
schicken Geröllmassen ins Tal. Oft wird die Autostraße unversehens
enger, weil die Unterspülung Teile weggerissen hat. Die Natur selber
ist hier in Bewegung. Eigentlich kann der »schräge Durchgang«
nur durch ständigen Wiederaufbau bewohnbar gehalten werden.
Wo alles in Bewegung ist, wird auch die Identität der Bewohner einem
ständigen Wandel unterworfen. Die aktuellen Prozesse der Entgrenzung,
wie zum Beispiel der Übergang in den Schengen-Raum, stellen die traditionellen
Bedingungen der Zugehörigkeit in Frage. 2008 schlug der Bürgermeister
von Tarvis allen Ernstes die Wiederangliederung des Kanaltals an Österreich
vor. Sein Argument war kein nationalistisches, sondern, dass man heute
auf der Autobahn schneller in Klagenfurt als in Udine wäre. Vielleicht
weist die Banalität dieser Begründung auf die eigentliche Qualität
eines transitorischen Raums: Sein »Selbst« kann sich letztlich
nicht aus den scheinbar tiefen Schichten eines Nationalbewusstseins formieren,
sondern es entsteht im ganz Gewöhnlichen und seiner immer wieder
neuen, oft schrägen und skurrilen Vermischung. [top] |