TEXTPROBEN

01. ZU DEN QUELLEN – RUNDWANDERUNG IM VAL RESIA
02. HINWEISE ZUR WANDERUNG UND WEGBESCHREIBUNG
03. KARTENSKIZZE
04. AM WEGE
05. WILHELM BERGER: SCHRÄGER DURCHGANG


05. WILHELM BERGER: SCHRÄGER DURCHGANG

Wer auf der Autobahn durch das Val canale, und, ab Pontebba, durch den Canale del ferro fährt, wird die Erfahrung des Vorübergehenden, des Flüchtigen machen. Diese Täler durchquert man ja tatsächlich fast nur als Passagier, der sich, anders als ein Reisender, durch ein Ziel definiert, das anderswo liegt: Rumänische Kleinbusse transportieren Personal nach Italien, das zu geringen Löhnen in Restaurants und Haushalten arbeiten wird. In rußenden Bussen streben polnische Pilger nach Rom. Das Ziel der sommerlichen Autokolonnen ist das Meer. Wenn der letzte Tunnel durchfahren ist, öffnet sich die friulanische Ebene, und der plötzliche, fast theatralische Szenenwechsel lässt eine Vorahnung von südlicher Weite entstehen.
Aber das Gefühl des Flüchtigen entsteht nicht nur durch die Bewegung der Passagiere, sondern den Tälern selbst haftet etwas Vorübergehendes an. Wie Kulissen säumen die Fassaden verlassener Häuser das Tal. Die Landschaft scheint sich förmlich abzuwenden. »Eine unheimliche Front wie das Haus vor meinem Fenster in Triest« sieht der Dichter Helmut Eisendle in einem der Seitentäler. Schon die im 16. Jahrhundert ausgebaute Fernstraße wurde »schräger Durchgang« genannt, und der Name Kanaltal hat seine Wurzel im Friulanischen: Cjanal bezeichnet enge, schlauchartige Täler, also Räume, die eher der Durchleitung als dem Aufenthalt dienen. Kurz vor Chiusaforte meint der Benützer der Autobahn sogar, durch die Trassenführung optisch getäuscht, zwei parallele Autobahnen vor sich zu haben. Der »schräge Durchgang« scheint ein Archetyp jener Orte zu sein, die in den Kulturwissenschaften als »transitorische Räume« bezeichnet werden, »Orte ohne Selbst«, wie sie der Philosoph Peter Sloterdijk in einem Interview nennt, Orte, die ihre »Passanten nicht halten.«

Mag der »schräge Durchgang« denen, die ihn heute zur schnellen Passage benützen, als eigenschaftslos erscheinen, so hat er dennoch ein faszinierendes Selbst. Es ist, als ob er seine verwickelte Geschichte gerade in ihrem Verschwinden bewahrt. Wenn südlich von Chiusaforte gleich fünf Brücken sichtbar werden, die nebeneinander die Fella überspannen, kommen die Schichten dieser Geschichte in den Blick: die zwei Brücken der Autobahn, die Brücke der Autostraße, die Brücke der alten Straße und die Brücke, auf der die Eisenbahn den Fluss querte, ehe sie im Jahr 2000 als Hochleistungsstrecke in 13 Tunnels mit einer Gesamtlänge von 46 km verlegt wurde, das sind immerhin 48 Prozent der Strecke von Udine bis Tarvis. Die Autobahn, die ihrerseits über 49 Brücken und durch 18 Tunnels verläuft, wurde in den Jahren 1973 bis 1986 gebaut. Wer dem Selbst der Gegend nahe kommen will, wird von der Autobahn auf die Autostraße abfahren müssen. Von ihr aus gesehen gewinnt sogar einen eigenen ästhetischen Reiz, wie sich die Autobahn, die alte Eisenbahn, die Straße und der Fluss immer wieder gegenseitig kreuzen.
Auf der Autostraße sind Generationen von Kindern mit ihren Eltern im voll bepackten Auto nach Rimini und Cesenatico, nach Caorle und Grado in den Urlaub gefahren. Die alte Grenzkontrollstelle bei Thörl-Maglern, der eigentliche Beginn des Urlaubsabenteuers, wäre noch funktionstüchtig, würde der Schengen-Vertrag ausgesetzt. Wie ein aufgelassener Bahnhof mit Bogenlampen und staubigen Fensterscheiben, durch die man die Reste eines Zollsaales sieht, scheint sie auf ihre Entdeckung als Filmkulisse zu warten. Und nach der Grenze wird die Welt tatsächlich noch immer fremd: Alte Bauernhäuser sind mit Blech gedeckt, die größeren Gebäude, zum Beispiel die ehemalige Stazione Tarvisio Centrale, folgen einem eigenwilligen, spitzwinkeligen Alpinstil, selbst die Betonmauern am Straßenrand sind von dunklerer Farbe.
Die Bewohner des »schrägen Durchgangs« haben mit den Durchreisenden ein Geschäft gemacht, ehe die Autobahn sie wegkanalisierte. Heute säumen die Ruinen von Supermärkten die Straße, in denen man bei der Rückfahrt noch rasch einen billigen Pullover oder jene Kiste Wein kaufte, die den Vater bei der Zollkontrolle zur verlegenen Lüge zwang. Der in Kärnten sogenannte »Fetzenmarkt« in Tarvis, früher eine bunte Ansammlung improvisierter Marktbuden auf morastigem Untergrund, ist längst geordnet worden. In Resiutta haben sich einige Hühnerbratereien und ein chaotisches Geschäft mit Souveniers und Gartendekorationen erhalten. Das International shopping center am südlichen Ortsausgang von Tarvis ist ein Denkmal der Konsumträume der 60er Jahre.

Was der Straßenbau dem Tal angetan hat, kann man in Pontebba besichtigen. Führt schon die Autostraße auf Stelzen in Fensterhöhe an den oberen Etagen der Häuser vorbei, so hat eine Autobahnabfahrt den Ort restlos abgeschnürt. Ihre monströse Dimension lässt sich eigentlich nur durch eine Mentalität erklären, die in der jüngeren Kulturgeschichte Italiens tief verankert ist. Wie schon in Deutschland, wo man die Autobahnen als die »Pyramiden des tausendjährigen Reiches« bezeichnete, wurde die Automobilisierung der Nation vom italienischen Faschismus als kulturpolitisches Projekt begriffen: Die autostrade bezeichnete Mussolini in seinen Reden als »imperiale Straßen«, die an die Geschichte der römischen Straßen anknüpfen, die Überlegenheit der Nation demonstrieren und das Volk zur Einheit verschmelzen sollten. Der Futurismus als einflussreiche Hintergrundideologie, jener philosophische Kult der Maschine und der Geschwindigkeit, degradierte, wie es in einer Studie von Franz Becker heißt, »die Natur zu einem abstrakten Raum, der keine andere Funktion mehr hatte, als es den Fortbewegungsmaschinen zu erlauben, ihre Geschwindigkeit zu entfalten.« In Deutschland legten 330.000 Menschen im Rahmen einer eigenen Ansparaktion monatlich fünf Mark für einen Volkswagen zurück, und in Italien lebten die kleinen Leute in Erwartung ihrer privaten Mobilmachung. Aber hier wie dort konnte die angekündigte Massenmotorisierung bekanntlich nicht verwirklicht werden. Als sie dann in den 60er Jahren tatsächlich in Gang kam, brach sich ein enormes Wunschpotenzial im Wortsinne seine Bahn. Man war bereit, die Welt als bloßes Durchgangsgebiet für das Auto zu betrachten. Aus dieser Dynamik ist jene Mentalität erklärbar, aus der heraus man eine Hochstraße sogar vor die alte Hafenfront von Genua gestellt hat. Und noch immer wird in Italien das Chaos auf den Straßen auch als Zeichen von Vitalität interpretiert. Fast lustvoll sitzt man im Stau und drängt sich am Pannenstreifen nach vorne.
In Pontebba führt die Autobahnabfahrt vierspurig an leerstehenden Eisenbahnerwohnhäusern aus den 50er Jahren und einem riesigen Bahnhofsgebäude vorbei und auf ein grellorange gestrichenes Haus zu, das die »Bar Zug« beherbergt. Pontebba, bis 1918 Grenzort zwischen Italien und Österreich-Ungarn, war bis zum österreichischen EU-Beitritt die Zollstation der Eisenbahn auf italienischer Seite gewesen. Auf dem Güterbahnsteig mit Laufgittern, der im Bahnhof vorläufig noch übrig geblieben ist, wurde das importierte Vieh veterinärmedizinisch untersucht.
Wie die Eröffnung der Autobahn im 20. Jahrhundert hatte die Fertigstellung der Bahnstrecke zwischen Tarvis und Udine 1879 gravierende Auswirkungen. »Durch die Eisenbahn wird der Raum getötet, und es bleibt uns nur noch die Zeit übrig«, schrieb schon Heinrich Heine. Was bei Heine auf die Erfahrung der Reisenden zielt, hatte für die Bewohner des »schrägen Durchgangs« ganz konkrete Folgen. Ihr Lebensraum wurde radikal umgestaltet. Fuhrleute und Schmiede verloren ihr Geschäft. Straßendörfer begannen zu veröden. Über stählerne Brücken, die heute wie Industriedenkmäler erscheinen, rollten Menschen und Güter vorbei, denen die Täler gleichgültig waren. Die heutige Bahnstrecke steuert kaum noch lokale Bahnhöfe an. Auf der Trasse der alten Bahn verläuft ein Radweg.

Schon im 19. Jahrhundert wurde der Tourismus wichtig. Vor dem Ersten Weltkrieg verkehrten fünfmal täglich Expresszüge von Wien nach Oberitalien, wobei die Reisezeit nach Venedig 13 bis 15 Stunden betrug. Die Züge sind heute schneller, aber diese hohe Frequenz wird nicht mehr erreicht. Ein Reisehandbuch aus dem Jahre 1909 äußert ein Lob, das durchaus auch heute gültig ist, wenn man sich von den Verkehrsbauten und dem kargen Schotterboden des Talgrunds abwendet. Unversehens öffnet sich dann ein fruchtbares Hinterland auf den Endmoränen der eiszeitlichen Gletscher: »Das Kanaltal, eines der herrlichsten Gebiete Kärntens und der Alpen überhaupt, (…) ist wie geschaffen für Touristen, welche den gebahnten Weg nicht gerne verlassen und mit Bedacht auf die Befriedigung leiblicher Bedürfnisse ohne viel Anstrengung viel sehen wollen, bietet aber auch jenen, die Mühe und Strapazen nicht scheuen, eine Fülle erhabener Schönheiten.«
Ein Passagier auf der Autobahn würde es kaum glauben, dass das Kanaltal auch heute noch zu den wichtigsten Wintersportregionen Italiens gehört. Zwischen Tarvis und Valbruna sind Seilbahnstationen in die Landschaft betoniert. Trotz des eher rauen lokalen Klimas – die Waldgrenze befindet sich hier in 1.500 Meter Höhe, während sie nördlich in den Alpen oft erst in 1.800 Meter verläuft – müssen die Pisten meist künstlich beschneit werden. Im Tal sind schrebergartenartige Hütten, Restaurants, Hotels und Appartmentbauten in der Landschaft verstreut. Das ästhetische Prinzip des Durcheinanders kulminiert in den Devotionalienhandlungen am Monte Santo di Lussari, rund um die Wallfahrtskirche aus dem Jahre 1360, die heute mit einer neuen Seilbahn erreichbar ist.
Der Bau der Eisenbahn bedeutete auch einen Aufschwung für den Bergbau. In Cave del Predil wurde seit dem 15. Jahrhundert Blei und Zink abgebaut. Im Museo Etnografico in Malborghetto sieht man ein Modell der heute stillgelegten Bergwerksanlage, einen nachgebauten Stollen und die Festuniformen der Bergleute. Das Museum dokumentiert auch die Bedeutung eines anderen Industriezweigs: Zum Teil mit mobilen Seilbahnen oder gezogen von Pferden wurde Holz zu den wassergetriebenen Sägewerken im Tal gebracht und mit der Bahn weitertransportiert. Der alte, ausgestopfte Bär im zweiten Stock des Museums wird vielleicht von Ferne einen damit zusammenhängenden Karnevalsbrauch beobachtet haben: Beim sogenannten »Blochziehen« wurde ein blumengeschmückter Baumstamm auf einem Schlitten zu Tal gezogen, mit der Aufschrift: »Trauer der Jungfrauen – Freude der Burschen«, gleichsam ein lokaler historischer Sexismus: Die Jungfrauen haben noch keinen gefunden, und die Burschen sind froh, davongekommen zu sein.
Das Gebäude, in dem das Museo Etnografico untergebracht ist, ist selbst ein Denkmal der Bedeutung der alten Straße: Der Palazzo Veneziano von 1593, zuerst im Besitz der Familie Paul, in die ein Adeliger aus venezianischer Familie einheiratete, ab 1878 Hotel, mit einer schönen Hofseite und Arkaden, zeugt vom Wohlstand der Unternehmer im Tal. Hammerwerke lieferten zum Beispiel Anker nach Venedig, auf der 1520 ausgebauten Straße transportierten die Fuhrleute Vieh, Getreide, Eisen, Blei, Pech für den Schiffsbau nach Süden und nahmen in der Gegenrichtung Olivenöl, Seide, Wein und Safran mit. Die charakteristischen langen Straßenzeilen in den Dörfern, durch die sie sich von den Haufendörfern im Hinterland unterscheiden, zeugen vom Zweck der Siedlungen, dem Transit allerlei Dienstleistungen anzubieten. Ab 1822 wurde die alte Fernstraße unter dem Hofbaurat Hermengild Ritter von Francesconi, bei dem der Erbauer der Semmeringbahn Carl Ritter von Ghega in die Lehre gegangen war, gründlich erneuert und neu trassiert.

Schon die alten Römer nutzten den »schrägen Durchgang«. Eine Römerstraße, die sich in der Nähe von Venzone einerseits Richtung Plöckenpass und andererseits der Fella folgend gabelte, verband Aquileia mit der Provinz Noricum. Reste der Straße sind in Coccau und zwischen Chiusaforte und Dogna, hier am linken Ufer der Fella, noch zu sehen. Larix im Gebiet von Camporosso war ein wichtiger Stützpunkt, situiert an der kaum merkbaren Wasserscheide, einer der niedrigsten der Alpen, von der aus das Wasser nördlich in die Gailitz, in die Drau und Donau und schließlich in das Schwarze Meer, südlich in die Fella und über den Tagliamento in die Adria fließt.
Zur Zeit der Völkerwanderungen waren die römischen Verbindungen unterbrochen und die Täler weitgehend entsiedelt. Im 6. und 7. Jahrhundert zogen Slowenen aus dem nördlich gelegenen Gailtal herbei. Eine verstärkte Besiedelung aus deutschen Landen begann, als um die Jahrtausendwende Kaiser Heinrich II. dem Bistum Bamberg die Herrschaft über das Kanaltal verlieh. Es bildeten sich dessen Hauptorte heraus. Tarvis blieb lange eine romanische Sprachinsel. Die Tatsache, dass die unterschiedlichen Sprachgebiete nicht zusammenhängend waren, sondern sich verschiedensprachige Siedlungen im Talverlauf abwechselten, führte zur sprachlichen Vermischung. In einer Ausgabe der geschichtswissenschaftlichen Zeitschrift »Carinthia« aus dem Jahr 1815, zitiert in einer lesenswerten Materialsammlung von Heinz Krabina, heißt es: »Der Karakter der Kanalthaler (…) erinnert nur wenig an den teutschen und wendischen Kärntner. Die teutsche, windische und italienische Sprache wird hier untereinander gemischt in schlechten Mundarten gesprochen.«
Der Nationalismus im 19. und im 20. Jahrhundert hat sich an die Entmischung gemacht. Hans Kitzmüller fasst die Folgen dieser Art von Flurbereinigung für ganz Friaul zusammen: Sie »…waren in bezug auf die Sprachenvielfalt verheerend: In Ostfriaul schwanden die Deutschkenntnisse, das Slowenische wurde als etwas fremdes betrachtet (so fremd, daß auch alle Personen- und Ortsnamen slawischer oder auch deutscher Herkunft italienisiert werden mußten), das Friulanische wurde als Ausdruck einer unbedeutenden Bauernkultur mißachtet.« Der Nationalsozialismus und der Faschismus begriffen die Entmischung als technische Aufgabe: 1939 kamen Mussolini und Hitler überein, die deutsch sprechenden Einwohner des Kanaltals, die sich nach dem Friedensvertrag von Saint Germain 1919 in Italien wiedergefunden hatten, ab- und ins Reich heim zu siedeln.

Was den Nationalisten, Faschisten und Nationalsozialisten bekämpfenswert erschien, macht noch heute eine Faszination des »schrägen Durchgangs« aus: In Tarvis sieht man den Geschäftsnamen »Altersberger« neben einem »Gasthaus Al Sole«, in Bagni di Lusnizza ein »Albergo Edelweiss«. Freilich sind in den Geschäften auch Flaschen mit den Aufschriften »Mussolini-Wein« oder »Hitler-Wein« zu haben. Hier treffen also offenbar Kulturkreise aufeinander, hier werden nach wie vor vier Sprachen gesprochen: Slowenisch, Italienisch, Friulanisch und Deutsch. Vielleicht hat die langsam zunehmende Tendenz in Italien, diese Vielfalt als Qualität wahrzunehmen, mit der Tatsache zu tun, dass Italien insgesamt vergleichsweise viele sprachliche Minderheiten beherbergt: Albaner, vor allem in Süditalien und Sizilien, zwei griechische Sprachinseln in derselben Gegend, es wird auch Serbokroatisch und Französisch gesprochen, und dann natürlich Sardisch, Deutsch, Slowenisch, Friulanisch. Im Kanaltal gibt es mehrere slowenische Chöre und einen Kulturverein, der sich um die Erhaltung altkärntner Traditionen bemüht. Das Zusammenleben ist ohne nennenswerte Konflikte.
Östlich von Malborghetto unterquert die Autostraße eine vorspringende Felsformation, die das Tal einengt. Auf ihr sind Reste von Befestigungen zu sehen. Gleich rechts nach dem Tunnelausgang bewacht ein lebensgroßer, an ein Schild gelehnter schlafender Löwe aus Gusseisen eine große, dreieckige Gedenktafel mit der deutschen Aufschrift: »Zur Erinnerung an den Heldentod des k. k. Ingenieur Hauptmanns Friedrich Hensel am XVII Mai MDCCCIX und den mit ihm gefallenen Kampfgenossen. Kaiser Ferdinand I.« Das Denkmal erinnert an einen anderen Typ von Passanten, an oftmalige Benutzer des »schrägen Durchgangs«: die Soldaten. Dreimal kamen die Türken über den Predilpass und äscherten 1492 sogar Tarvis ein. Während der Napoleonischen Kriege musste sich eine 150.000 Mann starke französische Armee den Durchweg schwer erkämpfen. Ferdinands Dank richtet sich an eine Truppe von 300 Mann, die diese Armee vier Tage lang aufhielt, indem sie das Fort Malborghetto bis zum letzten Mann verteidigte. Hauptmann Hensel, ihr Kommandant, bewies seine klassische Bildung und einigen Realismus, als er sagte: »Es wird mein und meiner Gefährten Grab sein, dieses Fort; aber ein herrliches Grab, wie das des Leonidas und seiner Spartaner bei Thermopylä.« Den Kern des schwachen Forts bildeten nämlich zwei hölzerne, auf zwei Meter hohen Steinsockeln gebaute Blockhäuser, deshalb nennt man die Anlage oft romantisierend »das Blockhaus von Malborgeth«. Der französische Kommandant, Prinz Eugène Beauharnais, Stiefsohn Napoleons aus der ersten Ehe seiner Frau Joséphine, der später Andreas Hofer erschießen lassen sollte, hatte sich dagegen bequem im schon erwähnten Palazzo Veneziano einquartiert. Bei den Kämpfen und der Erstürmung am 17. Mai 1809 nahmen Hensel und seine Gefährten 1.300 französische Soldaten mit in den Tod.

Die fortartigen Betonmauern, die heute zum Beispiel im östlichen Teil von Malborghetto sichtbar werden, gelten einem anderen Feind: Es sind gigantische Rückhaltebecken. Im »schrägen Durchgang« haben sich nicht nur Menschen vermischt, es vermischen sich auch die Klimazonen. Feuchte Winde von der Adria überlagern oft in der Höhe das alpine Klima im Tal, und dieses Aufeinandertreffen führt zu Starkregen, der Rinnsale plötzlich in Wildbäche verwandeln kann. 2003 zerstörten Wasser, Muren und Gerölllawinen Teile von Ugovizza und Malborghetto, auch die neue Bahnlinie war wochenlang unterbrochen. Der Vergleich alter und neuer Landkarten zeigt, wie schnell das Wasser die Täler verändert. Fella und Tagliamento, die im Frühjahr zu reißenden Strömen werden können, schütten immer wieder neue Inseln auf. Erdbeben schicken Geröllmassen ins Tal. Oft wird die Autostraße unversehens enger, weil die Unterspülung Teile weggerissen hat. Die Natur selber ist hier in Bewegung. Eigentlich kann der »schräge Durchgang« nur durch ständigen Wiederaufbau bewohnbar gehalten werden.
Wo alles in Bewegung ist, wird auch die Identität der Bewohner einem ständigen Wandel unterworfen. Die aktuellen Prozesse der Entgrenzung, wie zum Beispiel der Übergang in den Schengen-Raum, stellen die traditionellen Bedingungen der Zugehörigkeit in Frage. 2008 schlug der Bürgermeister von Tarvis allen Ernstes die Wiederangliederung des Kanaltals an Österreich vor. Sein Argument war kein nationalistisches, sondern, dass man heute auf der Autobahn schneller in Klagenfurt als in Udine wäre. Vielleicht weist die Banalität dieser Begründung auf die eigentliche Qualität eines transitorischen Raums: Sein »Selbst« kann sich letztlich nicht aus den scheinbar tiefen Schichten eines Nationalbewusstseins formieren, sondern es entsteht im ganz Gewöhnlichen und seiner immer wieder neuen, oft schrägen und skurrilen Vermischung.
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