Wilhelm
Berger
Soll,
Bruch und Stelle
Wer
wissenschaftlich einen Begriff erklären soll, fängt üblicher
Weise mit dessen geschichtlicher Herkunft an. Das ist beim Begriff Sollbruchstellen
schwierig. Denn der Begriff stammt natürlich aus der Technik, aber
er ist so sehr in die technische Umgangssprache eingegangen, dass mir
auch fünf Techniker, darunter sogar ein Festkörperphysiker,
die ich gefragt habe, nicht sagen konnten, wann er das erste Mal aufgetreten
ist. Eine Vermutung war aber: bei den ersten Flugzeugbauern. Die sind
so oft bruchgelandet, dass es ihnen lästig wurde, immer das ganze
Flugzeug neu zu bauen. So haben sie eben eine Methode entwickelt, damit
sich das Flugzeug beim Aufprall geregelt in seine einzelnen Teile zerlegte.
Und die musste man dann gewisser Maßen nur mehr zusammenstecken.
Historisch kommt man nicht sehr weit. Also muss eine andere Methode gewählt
werden: am besten die analytische. Analysieren heißt ja bekanntlich
auseinanderlegen. Wenn man den Begriff Sollbruchstellen auseinanderlegt,
erhält man drei Begriffe: Soll, Bruch und Stelle.
Wir beginnen mit dem Soll: Das ist das ein alter ökonomischer, juristischer
und auch philosophischer Begriff. Ökonomisch geht es ja noch heute
um Soll und Haben, juristisch ist das Soll weniger als das Muss, aber
mehr als das Kann, philosophisch schließlich tritt das Soll im Gegensatz
zwischen Sein und Sollen auf. Der Gegensatz selber hat zwei extrem unterschiedliche
Varianten. Die erste Variante bringt der Philosoph Hegel zum Ausdruck,
wenn er in der Phänomenologie des Geistes schreibt: Was seyn
soll, ist in der That auch, und was nur seyn soll, ohne zu seyn, hat keine
Wahrheit. Die zweite Variante steht bei Kant, wenn er praktische
Philosophie definiert als Wissenschaft nicht von dem, was ohnehin geschieht,
sondern von dem, was geschehen soll, ob es gleich niemals geschieht,
Wenn wir nun dem Wort Soll das Wort Bruch hinzufügen, werden wir
uns eher an Kant halten. Denn schon im technischen Sinne ist mit dem Wort
Sollbruchstelle die Hoffnung verbunden, dass etwas geschehen
soll, ob es gleich niemals geschieht: Wenn es darauf ankommt, wenn der
Wagen gegen den Baum kracht, was niemals geschehen soll, dann soll das,
was fest ist, brechen, damit die Lenksäule nicht in den Fahrer dringt.
Das ist somit das erste Ergebnis der Analyse: Die Synthese von Soll und
Bruch bringt den in sich ambivalenten Wunsch zum Ausdruck, dass etwas
Brechen soll, obgleich es nicht geschieht oder sogar gar nicht geschehen
soll.
So heißt es schon in der Bibel, in den Psalmen: mögen
die Völker erbeben, möge die Erde schwanken, und in der
Offenbarung: und es ereignete sich ein großes Erdbeben, und
die Sonne wurde schwarz wie härenes Sacktuch und der ganze Mond wurde
wie Blut ... und jeder Berg und jede Insel wurde von ihren Stellen gerückt.
Und zugleich wollten die Propheten natürlich, dass das niemals, zumindest
nicht zu ihren Lebzeiten geschehen sollte. Wir also, die wir mit Lust
Sollbruchstellen aufsuchen, könnten ausrufen: Möge
Afrika sich gegen Europa stemmen, möge die Erde erzittern, mögen
die industriell erzeugten Rustikalbalkone von den Einfamilienhäusern
stürzen, möge das Geschirr in altdeutschen Wohnzimmerschränken
klappern... Aber es soll eben zugleich nicht geschehen, denn gegen diesen
Ausruf spricht zweierlei: Erstens, dass in ihm eine apokalyptische Hoffnung
zum Ausdruck kommt, mit der von der Kirche bis zum Nationalsozialismus,
von der leeren Erwartung, dass irgendwas anders werden soll, die zum Beispiel
die letzten Wahlen mitentschieden hat, bis zum Nulldefizit trefflich hantiert
wurde und hantiert wird, und zweitens, dass man sich im nach dem Ende
des Zitterns und Bebens sofort an den sogenannten Wiederaufbau machen
würde.
Es zeigt sich also, dass dritte Begriff der Analyse der wichtigste ist:
Was ist die Stelle des Sollbruchs? Auf den ersten Blick ist es das reale
Territorium, in dem die Sollbruchstellen verteilt sind. Dieses
Territorium kann und will natürlich niemand real zum Brechen bringen,
andererseits aber sollen die Sollbruchstellen auch nicht bloß
virtuell sein. Was ist also das Territorium der Sollbruchstellen?
Ein Territorium scheint einmal zunächst Eigenschaften zu haben. Es
ist zum Beispiel eng oder weit. Es ist eng und dunkel, wie für Heinrich
Heine der deutsche Wald, von dem er, als er den Franzosen die deutsche
Religion und Philosophie erklären wollte, schrieb: Eure Nixen
sind von den unsrigen ebenso verschieden wie eine Prinzessin von einer
Wäscherin. Oder ein Territorium ist weit wie das Meer, von
dem der Dichter sagt: das freie Meer befreit den Geist.
Der deutsche Wald aber kann einmal dunkel sein, ein anderes Mal der positive
Inbegriff des deutschen Wesens, wie zum Beispiel für den deutschen
Philosophen Martin Heidegger, das Meer kann eine ungeheure Weite oder
ein freies Schussfeld für die Schiffsartillerie sein, wie zum Beispiel
für den deutschen Philosophen Carl Schmitt. Ein Territorium,
das weiß man in Kärnten am besten, wo man ja mit Blut die Grenze
schrieb, ist daher nicht immer schon da, sondern es wird künstlich,
also historisch erzeugt, und seine Eigenschaften sind daher nicht immer
schon gegeben, sondern geschichtlich, sie sind nicht nur real, sondern
gewissermaßen metaphysisch.
Was wären nun diese metaphysischen Eigenschaften eines Territoriums?
Es ist möglich, dafür Wörter einsetzen wie Tonalität
oder Stimmung: Ein Territorium hätte dann einen gewissen Ton,
ist wäre gewissermaßen gestimmt, und diese Tonalität
und Stimmung korrespondierte mit dem Umgangston und der Gestimmtheit
seiner Einwohner.
Nun wissen wir spätestens seit Sigmund Freud, dass jede Stimmung
ambivalent ist. Diese Ambivalenz lässt sich in Kärnten deutlich
erfahren in der Gestalt von extremen Gegenläufigkeiten: Die vielen,
über die Landschaft gleichsam hingeschütteten Einfamilienhäuser,
die eine Stimmung namens Heimat erzeugen und in der Zersiedelung
gleichzeitig zerstören, eine ständig neu behauptete Stimmung
der Schönheit, die oft nur noch von der durch sie hindurch gefrästen
Autobahn aus sichtbar wird, Denkmäler, die eine Stimmung der
Erinnerung erzeugen sollen, deren Frieden aber durch sie ständig
neu dementiert wird.... Das alles sind Zeichen einer Gegenläufigkeit
von Heimat und Entfremdung, und diese Gegenläufigkeit zeigt sich
als Brüchigkeit entlang eines vieldimensionalen Netzes von Spannungen.
Wenn der Wind, also irgendeine Beunruhigung durch dieses Netz hindurchweht,
dann erzeugt es zugleich süßliche Töne und grobe Dissonanzen,
es bricht manchmal und wird gleich wieder geflickt.
Etwas haben die Techniker noch gesagt, die ich nach der historischen Herkunft
des Wortes Sollbruchstellen gefragt habe: Die Technologie
der Sollbruchstelle ist heute bereits antiquiert, weil die elektronische
Überwachung und Steuerung die Geräte immer schon bremst oder
abstellt, ehe es zum Bruch kommt. Ich glaube, dass man auch das unmittelbar
auf die Tonalität oder Stimmung des Kärntner Territoriums
übertragen kann. Was in der Technik die elektronische Bremse ist,
ist hier eine aktuelle Stimmung, für die man das Wort Normalisierung
einsetzen kann. Damit ist weniger gemeint, dass der größte
Schwachsinn als normal akzeptiert wird, sei es ein Treffen von Tausenden
Golf-GTI-Fahrern, sei es die Möblierung von See-Ufern mit unsäglichen
schwimmenden Bühnen, sei es eine Starnacht am Wörthersee mit
Slatko und Konsorten, bei der Vera Russwurm die Zuschauer irrtümlich
am Neusiedlersee begrüßt hat...
Ich meine eher den Grundton einer immer mehr präsenten, selbstbewußten
Vulgarität, einer herausfordernd aus irgendwelchen Gartenzwerggärten
und Cabrios blickenden Dummheit, einer aus Zeitungskolumnen geifernden
Anmaßung, die als völlig normal empfunden wird, ein Grundton,
der von der Eventkultur, die sich breitmacht, nur noch verstärkt
werden muss. Die Eventkultur nährt sich freilich aus den Ambivalenzen
der Stimmung und transformiert sie so, dass es zu keinen Brüchen
kommt. Und diejenigen, die vorgeben, den Süden damit zum blühen
zu bringen, verdrängen gleichzeitig aggressiv oder naiv jede Störung,
wie es ja in dramatischer Weise zahlreichen Initiativen, wie auch dem
Universitätskulturzentrum, schon passiert ist.
Ich hoffe, dass ich die Künstler nicht missbrauche, wenn ich
die Sollbruchstellen auch als Irritationen eben dieser Stimmung,
der Stimmung der Normalisierung interpretiere. Solche Irritationen
bringen aber zugleich auch die Gegenläufigkeit von Entfremdung und
Heimat zum Kurzschluss, das heißt, sie erzeugen gerade keine neue
Heimat. Als kleine Zeichen sind sie vielmehr Brüche, die radikal
für sich selbst stehen. Damit aber produzieren sie vielleicht
auch andere Stimmungen und damit andere Territorien: kleine Territorien
nicht des Ressentiments, sondern der Positivität.
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