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Stephan Jank: Wie Politik Abschaffen?
Guten Abend, verehrte Damen und Herren und zugleich auch herzlichen Dank an die Veranstalterinnen und Veranstalter für die Einladung, über die ich mich sehr freue.
Ich möchte in meinem Beitrag eine Probebohrung unternehmen um auszuloten, ob Viktor Rogy seine politischen Keile nicht doch ein wenig weiter unter die gesellschaftliche Oberfläche getrieben hat als es bei einer nur oberflächlichen Betrachtung den Anschein hat. Der Titel meines Beitrages stellt offensichtlich dieselbe Frage, die Viktor Rogy bereits von 40 Jahren Ende der 70 Jahre gestellt und bekanntlich mit dem geradezu apodiktischen Imperativ »Abschaffen!« beantwortet hat. So attraktiv dieser Vorschlag angesichts der aktuellen Entwicklungen auf den politischen Bühnen dieser Welt auch klingen mag, so sehr befürchte ich – und diesen Verdacht möchte ich mit meinem Beitrag zu erhärten versuchen -, dass ein solches simples Abschaffen von Politik jedenfalls unter kapitalistischen Bedingungen wohl nicht zu haben sein wird.
Erlauben Sie mir dazu, in der gebotenen Kürze ein Bild unserer Gesellschaft zu skizzieren, welches sich ein wenig abseits der gängigen Erzählung bewegt. Dazu eine erste These: Die bürgerliche Grundbefindlichkeit in der modernen Warengesellschaft ist jene der völligen Isolation. Noch nie waren die Menschen in einer Gesellschaft so voneinander isoliert, wie sie das in der modernen Warengesellschaft sind.
Woher kommt das? Was sind Ursachen dafür? Dazu müssen wir nur einen kurzen Blick auf das werfen, was wir den ganzen lieben Tag lang so machen. Wir werden feststellen, dass wir gezwungen sind, einen großen Teil unserer Lebenszeit gegen den Lohn für jene Arbeit zu tauschen, die wir innerhalb dieser Zeit verrichten; dass wir gezwungen sind, die Möglichkeit zu wohnen gegen die dafür vorgesehene Miete oder vergleichbare Finanzierungsvarianten zu tauschen; dass wir gezwungen sind, vor jeder Mahlzeit die dafür erforderlichen Lebensmittel gegen Geld zu tauschen. Und natürlich ist auch jedes Unternehmen gezwungen, seine Rohstoffe oder Halbfertigprodukte mit seinen Lieferanten gegen Geld zu tauschen, welches es auf der anderen Seite gezwungen ist mit den Kunden gegen seine Produkte oder Dienstleistungen zu tauschen.
Diese Liste lässt sich beliebig lange fortsetzten und zeigt ganz klar, dass in der modernen Warengesellschaft der Tausch, also jene rigide Form menschlicher Interaktion, die jedes Geben unhintergehbar an ein instantanes und äquivalentes Nehmen koppelt, zu dominanten oder präziser: zur einzigen, gesellschaftlichen Interaktionsform geworden ist. Alles andere, also all das, was sich nicht in diese rigide Form pressen lässt, verbannt die moderne Warengesellschaft in die gesellschaftliche Marginalie der bürgerlichen Privatheit. Dies gilt für die gesamte stoffliche Reproduktion der Gesellschaft, die bekanntlich beinahe ausschließlich in private Unternehmungen stattfindet. Dies gilt aber ebenso für die biologische Reproduktion, für die ja die Privatheit der bürgerlichen Familie oder vergleichbarer Organisationsformen vorgesehen ist.
Wir haben es in der modernen Warengesellschaft also mit einem Setting zu tun, in welchem ihre Mitglieder durch ein ubiquitäres Tauschdiktat in die Isolation der eigenen Privatheit gezwungen werden, eine Isolation, die dem Tausch zwingend und gewissermaßen intrinsisch vorausgesetzt ist. Denn Akteure, die gesellschaftlich nicht voneinander isoliert sind, würden wohl niemals auf die geradezu absurde Idee verfallen, ihre direkten menschlichen Beziehungen den restriktiven Beschränkungen des Tausches zu unterwerfen. Nur den, voneinander isolierten Tauschmonaden der modernen Warengesellschaft ist es möglich, ihre eigene, reale Unterwerfung unter diese Tauchdiktat als nimmer enden wollende, segensreiche Sequenz von autonomen, selbstbestimmten und freiwilligen Tauschhandlungen wahrzunehmen.
Es ist wohl diese, zutiefst ideologische Umkehrung der tatsächlichen Verhältnisse bis in ihr genaues Gegenteil, welche die verhängnisvolle Vorstellung in die Welt setzen konnte, ausschließlich der Einzelne wäre Autor seiner Biographie. Das ist übrigens auch genau die Geburtsstunde jener geradezu lächerlichen, liberalen Karikatur eines Menschen, die sich selbst nur noch als Schmied ihres eigenen Glückes wahrnehmen kann und darüber zwingen übersehen muss, dass sie sich permanent in einer hoch toxischen und extrem pathogenen Situation befindet.
Sie alle kennen Paul Watzlawicks Beispiel von der Mutter, die ihrem Kind befiehlt: »Sei doch endlich einmal spontan, sonst kriegst eine Tschinöll’n, dass‘t 14 Tage lang die Engel singen hörst!«. Damit hat Watzlawick das Konzept eines Double Bind illustriert, welches von einem Befehl ausgelöst wird, der nur befolgt werden kann, indem seine Ausführung verweigert wird. Es liegt auf der Hand, dass der Empfänger eines solchen Befehls in eine psychologische Zwickmühle gebracht wird. Wenn nun ein solches Double Bind zu einer länger andauernden oder gar permanenten Episode wird, dann muss davon ausgegangen werden, dass es veritable psychopathogene Wirkkräfte entfaltet.
Nach dem bisher Gesagten ist auch klar, dass sich die Mitglieder der modernen Warengesellschaft in genau einem solchen Double Bind befinden. Nur lautet der Befehl hier nicht: »Sei spontan!«, sondern: »Tausche! Aber bitte freiwillig und selbstbestimmt.« Meine These lautet nun, dass genau dieses permanente Double Bind, in welches die Tauschmonaden von der modernen Warengesellschaft gezwungen werden, verantwortlich ist für jene psychotische Verfasstheit des bürgerlichen Individuums, die ständig zwischen der Allmachtsphantasie des Glückschmiedes auf der einen Seite und der traumatischen Ohnmachtserfahrung der isolierten Tauschmonade auf der anderen Seite hin und her oszilliert. Welch ein verheerendes Potential aus dieser Oszillationsbewegung letztlich immer wieder auf’s Neue abrufbar ist, zeigt ein Blick auf die Geschichte nicht nur - aber vor allem - des 20. Jhdts.
Dass nun das bisher skizzierte Setting nicht voraussetzungslos existieren kann – außer vielleicht in den feuchten Träumen einiger neoliberaler Hardliner – muss wohl auch nicht erklärt werden. Irgendwo müssen die Mitglieder der modernen Warengesellschaft ja auch ihre allgemeinen Angelegenheiten verhandeln und erledigen. Damit sind jene Dinge gemeint, die sich eben nicht durch die Verfolgung privater Einzelinteressen unter dem Diktat eines ubiquitären Tauschimperativs von selbst erledigen. Genau deshalb musste sich parallel zur Durchsetzung der modernen Warengesellschaft eine Instanz entwickeln, die wir alle als den modernen Staat oder präziser: als Nationalstaat kennen. In ihm verwandelt sich die Verhandlung der allgemeinen Angelegenheiten in diese typische Form moderner Politik, deren Gestaltungsspielraum damit aber auch schon klar und eng umrissen ist, weil es hier – wie gerade gesagt - eben nur um jene Dinge gehen kann, die sich eben nicht durch die Verfolgung privater Einzelinteressen unter dem Joch des Tauschdiktats von selbst erledigen.
Dies bedeutet insbesondere, dass der Tausch als das zentrale gesellschaftliche Formprinzip in der modernen Warengesellschaft politisch unverhandelbar ist. Das wiederum steht nun in krassen Widerspruch zur bürgerlichen Politikerzählung, die uns von einer Veranstaltung berichtet, welche – so sie nur wollte – über alles und jedes frei und selbstbestimmt verhandeln und entscheiden könne, was von gesellschaftlichem Belang wäre. Während also der tatsächliche Gestaltungsspielraum moderner Politik außerordentlich eng umrissen ist und sich im Wesentlichen auf die Herstellung möglichst günstiger Kapitalverwertungsbedingungen beschränkt, halluziniert sich die gängige Erzählung die moderne Politik zum unbegrenzten Feld bürgerlicher Selbstbestimmung.
Schon wieder blitzt hier – diesmal auf der kollektiven Ebene - diese zutiefst ideologische Umkehrung der tatsächlichen Verhältnisse geradezu in ihr Gegenteil durch. Eine solche Politik, die noch nicht einmal ihre eigene warengesellschaftliche Bedingtheit in ihr Blickfeld bekommt, kann aber nur verschwinden, wenn zugleich auch die moderne Warengesellschaft selbst abgewickelt– oder versöhnlicher formuliert: emanzipatorisch überwunden – wird.
Ich finde, dass Viktor Rogys Vorschlag, Politik einfach abzuschaffen, vor diesem Hintergrund einen geradezu revolutionären Touch bekommt, zumindest im Sinne Che Guevaras, der ja bekanntlich vorgeschlagen hat: »Seien wir realistisch – schaffen wir das Unmögliche!« Jeden falls ist Rogy hier meilenweit von jedem Wutbürgertum entfernt. Denn dieses hat noch nie vorgeschlagen, Politik abzuschaffen, sondern bleibt ja immer nur in dern Allmachtsphantasien der bürgerlichen Politikerzählung gefangen. Einer Politikerzählung, die es noch nicht einmal zu hinterfragen, geschweige denn zu dekonstruieren in der Lage ist. Ich bringe daher meinen Entlastungsantrag wie folgt ein:
Der Parteitag möge beschließen, Viktor Rogy von jenem Verdacht zu entlasten, der anlässlich der Eröffnung der aktuellen Rogy-Schau in der Villacher Freihausgasse geäußert wurde, wonach Rogy Ende der 70er Jahre in seiner Auseinandersetzung mit bürgerlicher Politik das Opfer einer Frühform des Wutbürgertums geworden sein könnte. Mit der Bitte, diesem Antrag wohlwollend zuzustimmen, bedanke ich mich herzlich für ihre Aufmerksamkeit und wünsche weiterhin einen guten Abend.
© Stephan Jank, 2019

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