Textproben

Prato Carnico | Prât di Cjargne (Aus: X. ZEIT ZU(M) GEHEN – Wanderung im Val Pesarina)

Das bedeutendste Kulturdenkmal des Ortes befindet sich am westlichen Ortsrand. Es ist die 1913 eröffnete Casa del Popolo, die vor einigen Jahren renoviert und um einen modernen Zubau aus Holz erweitert wurde. Was wie ein harmloses Schulgebäude aussieht, war über Jahrzehnte ein Hort der Selbstermächtigung und des politischen Widerstands der örtlichen Bevölkerung. Diese scheint das Aufbegehren förmlich im Blut zu haben. So konnte sich hier der Protestantismus länger als anderswo halten und entstand bereits vor 400 Jahren eine quasi basisdemokratische Gemeindeverwaltung. Die Errichtung des Volkshauses erfolgte auf Initiative von Auswanderern bzw. Rückkehrern aus ganz Europa und Übersee, die von revolutionärem Gedankengut im Ausland inspiriert worden waren. Bereits 1892 war in Prato Carnico die Società Operaia di Mutuo Soccorso zur »Pflege des Zusammenhalts und der gegenseitigen Hilfe« gegründet ­worden, der 1900 eine Sektion des Partito Socialista Italiano folgte. Zur selben Zeit verzeichnete die Obrigkeit »anarchistische Umtriebe«, die zur Gründung einer Konsumgenossenschaft sowie einer Art Gewerkschaft der Wanderarbeiter führen sollten. Finanziert wurde die casa durch Spendensammlungen unter Emigranten und Einheimischen, am Bau selbst beteiligten sich rund 150 Freiwillige, darunter nicht wenige Frauen.

Nach drei Jahren war das erste Volkshaus Karniens fertiggestellt. In erster Linie Kultur- und Bildungszentrum, diente es zugleich als Sitz mehrerer links orientierter Vereine. Schon bald in ideologische Grabenkämpfe verstrickt, einte sie doch der Antiklerikalismus sowie die internationale Solidarität. So wurde die Casa del Popolo am 28. Februar 1915 Ausgangspunkt einer denkwürdigen Massendemonstation. Rund 700 Männer und Frauen marschierten von Prato Carnico Richtung Villa Santina, um gegen den Kriegseintritt Italiens zu protestieren. Als der Zug im Val Degano von carabinieri und Soldaten mit aufgepflanzten Bajonetten aufgehalten wurde, drohte die Lage zu eskalieren. Nach einem Handgemenge mit mehreren Verletzten zog sich die Staatsgewalt jedoch zurück und versammelte sich die jubelnde Menge, von meuternden Soldaten begleitet, in Villa Santina zur Abschlusskundgebung.
Auch nach dem Krieg war das Tal Schauplatz großer Demonstrationen sowie mehrerer Generalstreiks. Und wieder diente das Volkshaus als Stützpunkt sozialistischer und anarchistischer Gruppen, zu denen bald ein kommunistischer Ableger hinzukam. Da ließen die ersten Übergriffe durch squadristi, faschistische Schwarzhemden, nicht lange auf sich warten. Unverzüglich bildeten sich bewaffnete Arbeiterkomitees, die im Dorf patrouillierten und die Casa del Popolo rund um die Uhr bewachten. So wurde das Val Pesarina von den Milizen Mussolinis bis auf Weiteres gemieden und fand der duce nur wenige AnhängerInnen im Tal. Umso härter schlugen die Faschisten nach der Machtergreifung zurück. Politische Gegner wurden reihenweise verhaftet und verschwanden im Gefängnis, die übrige Bevölkerung durch Bespitzelung und Razzien eingeschüchtert. Zahlreiche Protagonisten der Arbeiterbewegung konnten sich jedoch ins Ausland absetzen und blieben ihrer revolutionären Gesinnung treu. So schlossen sich mehrere Pesarini den Internationalen Brigaden der Republikaner im Spanischen Bürgerkrieg an oder sollten später in der französischen Résistance eine Rolle spielen. Trotz des linken Exodus blieb der Ort für die Faschisten unsicheres Terrain. Noch im Jahr 1933 schrieb der Präfekt von Udine an den Innenminister: »Die kleine Stadt Prato war schon immer eine Hochburg des Kommunismus und friulanischen Anarchismus.«
Wenig überraschend war Prato Carnico 1943 auch eine Keimzelle der karnischen Partisanenbewegung. Mehrere hochrangige Kommandanten stammten aus dem Ort; auch der Comitato di Liberazione Nazionale hatte hier einen Sitz. Entsprechend hoch war der Blutzoll unter den Widerstandskämpfern der Gemeinde. So kamen bei bewaffneten Überfällen auf deutsche Einheiten mehrere Einheimische zu Tode, unter ihnen Leo Cimador, ein jugendlicher Partisan, nach dem heute der circolo creativo im Nachbardorf Pieria benannt ist. Weitere Tote gab es in den letzten Kriegsmonaten bei Vergeltungsmaßnahmen bzw. »Säuberungen« durch die Kosaken zu beklagen, so am 2. April 1945 bei einem Angriff kosakischer Verbände auf eine Stellung des (mit Unterstützung der Sowjets gebildeten) Stalin-Bataillons. Drei junge Pesarini ließen dabei ihr Leben. Am 9. April wurde schließlich der Partisanenführer Albino Gonano aus Prato Carnico gemeinsam mit 36 anderen Genossen im Gefängnis von Udine von der SS erschossen. So wurde der 1. Mai 1945 im bereits befreiten Val Pesarina als Trauertag und in aller Stille begangen.

Foto: Niki Meixner (Im Festsaal der Casa del Popolo in Prato Carnico, IT)