Textproben

Chiàicis | Cjaiças (Aus: VIII. IM VERBORGENEN – Wanderung bei Verzègnis)

Die Sehenswürdigkeiten des Ortes lassen sich an den Fingern einer Hand abzählen: ein zylindrischer Bildstock, der den Erzengel Michael als Tierquäler darstellt; ein mustergültig angelegter Gemüsegarten; ein steinerner Löwe, der sich einen Fisch geschnappt hat; ein aus der Zeit gefallener Lebensmittelladen; drei Badewannen, aus denen die Küchenkräuter wachsen. Als Dorfplatz muss ein verbreiterter Gehsteig mit Betonmöblierung, überdachtem Bushäuschen und neoantikem Brunnen herhalten. Von den Anschlagtafeln hängen die Plakate in Fetzen.

Hier begann im Jahr 1878 eine Geschichte, die Verzègnis in ganz Italien bekannt machte. Mehrere Mädchen und junge Frauen, die bisher nicht weiter aufgefallen waren, legten plötzlich ein verstörendes Verhalten an den Tag. Sie wälzten sich am Boden, stießen wilde Flüche aus und beschimpften die Leute auf das Unflätigste. Manche lästerten in fremden Sprachen, andere verhielten sich wie Tiere und entwickelten übermenschliche Kräfte. Mehrmals attackierten sie ihre entsetzten Eltern oder Ehemänner und brachten den Pfarrer aus der Fassung, indem sie während der Heiligen Kommunion in diabolisches Gelächter ausbrachen. Somit stand fest, dass der Leibhaftige in die Frauen gefahren war, zumal sie sich auch selbst für besessen hielten. Das Beispiel machte bald Schule, bis schließlich 18 Frauen und mit ihnen der örtliche carabiniere des Teufels waren. In der Folge kamen die Leute von weit her, um einem Schauspiel beizuwohnen, das immer groteskere Formen annahm. Läuteten die Kirchenglocken, steigerten sich die Besessenen wie auf Kommando in den Furor und hob im ganzen Dorf ein schrilles Geschrei an. Doch blieb es nicht bei blinder Raserei, denn zum allgemeinen Erstaunen entwickelten die Betroffenen auch hellseherische Fähigkeiten. So konnten manche Frauen vergangene und zukünftige Ereignisse exakt beschreiben bzw. verlässlich voraussagen, was noch mehr Schaulustige anlockte. Um die Situation wieder unter Kontrolle zu bringen, versuchte man es mit Exorzismus, bis der Bischof die zweifelhaften Experimente mangels Erfolg unterband.
Schließlich konnte der Satan mit Hilfe der Wissenschaft niedergerungen werden. Sie trat in Gestalt eines Amtsarztes und Psychiaters auf, der die Besessenheit als nervöses Frauenleiden qualifizierte und 15 Betroffene ins Hospital einliefern ließ. Den übrigen Dorfbewohnern verordnete er Besonnenheit und Vertrauen in die Schulmedizin. Das beste Heilmittel sei es, möglichst wenig Aufhebens um die Angelegenheit zu machen und die »Anfälle« als natürliches Phänomen zu betrachten. Auch sollte vom Pfarrer das Glockengeläut auf das Notwendigste beschränkt und jeglichem Aberglauben eine klare Absage erteilt werden. Als die Frauen nach mehreren Monaten aus dem Spital ins Dorf zurückkehrten, hatte sich die Massenhysterie gelegt. Die Geheilten verhielten sich unauffällig, gaben sich fromm und fügten sich in die alte Ordnung. Nur drei von ihnen zeigten Anzeichen von Rückfälligkeit, worauf beschlossen wurde, sie aus der Gemeinde zu verbannen. Eine nahm sich das Leben, von den anderen verlor sich die Spur. Verewigt wurden sie im Roman Le indemoniate di Verzègnis des Triestiner Autors Pietro Spirito (* 1961), der noch immer auf seine Übersetzung ins Deutsche wartet.

Foto: Gerhard Pilgram (Hausgärten bei Chiàicis, IT)