arrow_back Wocheinerbahn/Bohinjska proga (Ortsbeschreibung, IV. Etappe, Auszug)
Wer das erste Mal mit den für dieses Buch wichtigen drei Bahnen, der Karawankenbahn, der Wocheinerbahn und der Karstbahn, fährt, wird, trotz einiger Modernisierungen, ein heimeliges Gefühl empfinden. Wie in kindlichen Träumen winden sich die Gleise durch Tunnel und über Brücken nach Süden. Manchmal sieht man noch langnasige, 1960 von General Motors gebaute Diesellokomotiven der Baureihe 664, die den Spitznamen ­»Reagan« tragen. Die alten Bahnhofsgebäude, die Schuppen und die Wohnhäuser der Eisenbahner stehen vertraut beieinander. Wenn eine Weiche zu stellen ist, kann es sogar noch vorkommen, dass der Weichensteller auf seinem Fahrrad den Bahnsteig entlangfährt. Die Bahnhofsgaststätten (am schönsten in Jesenice, Bled, Bohinjska Bistrica, Most na Soči und Nova Gorica) erinnern an anderswo längst von Schnellimbissen und Backshops abgelöste Institutionen, in denen man, wie es in einem Band von Guido Fuchs heißt, »mit Würde sitzen« konnte. Im Bahnhofsbuffet von Jesenice, »in einer der mit Holz verkleideten Nischen«, hat der junge Peter Handke die vorgedruckte Speisekarte studiert, die in fast allen jugoslawischen Gaststätten auslag. Die Bahnen und ihre Umgebungen sind Plätze von Erinnerungen, die sein Buch Die Wiederholung aufzeichnet.
Eben nicht die Hochgeschwindigkeitszüge der Gegenwart, nicht die von Sicherheitsdiensten sauber gehaltenen Ankunftshallen und Einkaufszentren, sondern Bahnen und Bahnhöfe wie diese lassen an fast vergessene Bilder denken: der Nachtzug mit seinen Kurswagen nach Rom und Marseille, dem das kleine Kind fasziniert nachschaute, die Vertrautheit mit den immer selben Häusern, an denen man morgens vorbeifuhr, die mobilen Süßwarenhändler am Bahnhof, die versammelten »Gastarbeiter«, die gar nicht abreisen wollten, sondern bloß auf die Gleise blickten und sich dabei mit ihren Herkunftsorten verbunden fühlten. Alte Bahnen wie diese haben etwas Geheimnisvolles und Phantastisches, etwas Mystisches. Nirgendwo anders als in einem Nachtexpress kann jene unglückliche Geschichte geschehen, die Heimito von Doderer in seinem Roman Ein Mord, den jeder begeht erzählt. Und wo kann ein Ziel intensiver erwartet werden, als im Zug? Vielleicht standen George Tabori die letzten Kilometer der damaligen Karstbahn vor Augen, als er in seiner Erzählung Die Gefährten zur linken Hand schrieb: »Gleich würde das berühmte Panorama auftauchen, der Steilhang zum Meer (…) nach acht Stunden Fahrt endlich das Meer.«
Die mythische Dimension, die der Eisenbahn einmal zugeschrieben wurde, gilt für die einstige »Transalpina«, heute Karawankenbahn, Wocheinerbahn und Karstbahn, in besonderer Weise. In den zahlreichen Eingaben und Broschüren, Zeitungsartikeln und Büchern, die ihre Planung begleiten, wird aufgeregt argumentiert. Das Projekt ist kein bloß technisches oder ökonomisches Vorhaben. Es war südlicher Teil der »Neuen Österreichischen Alpenbahnen«, deren Bau der Reichsrat im Jahr 1901 beschlossen hatte. 1905 war der Tunnel bei Bohinjska Bistrica, 1906 die ganze Wocheinerbahn fertig. Die Strecke von Schwarzach-St. Veit nach Triest eröffnete Erzherzog Franz Ferdinand mit einer feierlichen, fast zeremoniellen Fahrt. Der Name Neue Österreichische Alpenbahnen verrät seine Bedeutung als politisches, ja kulturelles Projekt. Es geht um den Zusammenschluss eines auseinanderstrebenden Territoriums, durch ungeheure Hindernisse, die das Gebirge auftürmt, und hin orientiert auf ein Ziel, das mehr ist als ein bloßer Zielbahnhof. »Wien–Triest, das war die Südbahn. Das war das Rückgrat einer Sehnsucht, die Mitte des vorigen Jahrhunderts geboren wurde«, schreibt Ernst Molden in Bezug auf die große Konkurrentin unserer drei Bahnen, die Südbahn. Die Bahnen in den Süden bezogen die Ebenen und Berge, die Orte und Landschaften der österreichisch-ungarischen Monarchie auf das Meer. Vom Meer aus sollte eine Identität zurückgespiegelt werden, um einem ethnischen und sozialen Gemisch die Konturen einer Nation zu geben.
Dementsprechend verfolgte das Projekt der Neuen Österreichischen Alpenbahnen volkswirtschaftliche, das heißt nationale und ökonomische Interessen zugleich. Die damals existierenden Verbindungen in den Süden über Ljubljana waren – je nach Lage der Staatsfinanzen – in der Hand von Privatgesellschaften, die ihren Betrieb am kurzfristigen Gewinn ausrichteten (ab 1841 hatte Österreich den vorher privaten Netzausausbau staatlich vorangetrieben, 1854 wurden die Bahnen, darunter die Südbahn, erneut privatisiert). Das entschied oft über Gedeih oder Verderb von lokalen Industrien. Der Niedergang der Sensenindustrie im oberösterreichischen Steyrtal, das teuer zu erschließen war und daher von der Bahn zunächst umfahren wurde, ist dafür ein Beispiel. Im Zeitalter der neoliberalen Privatisierung öffentlicher Güter mutet das Argument aus dem Jahr 1896 zugleich anachronistisch und aktuell an, erst durch den Bau einer staatlichen Verbindung nach Triest würde »es der Staatsverwaltung, unter Aufrechterhaltung ihrer Würde, möglich sein, sich von Cartellen, Frachtenbündnissen und anderen, den freien Verkehr hemmenden Verträgen mit Privatbahnen endlich loszumachen, und die directe Ein- und Ausfuhr der Monarchie nach Belieben und Bedürfnis zu regeln«.
Der Gegensatz zwischen Volkswirtschaft und Betriebswirtschaft kann noch heute stellenweise an der Qualität der Bauten abgelesen werden: Während sich die mittlerweile stillgelegte Verbindung von Tarvisio nach Jesenice wie fast alle Privatbahnen aus Kostengründen in engen Kurvenradien der Landschaft anpasste und zum Teil über Holzbrücken verlief, erlaubte sich die Wocheinerbahn den Luxus des größten gemauerten Brückenbogens der Welt, dessen 85 m Lichtweite sie noch immer bei Solkan überquert. Als diese und alle anderen Brücken fertig waren, konnte man in nahezu der gleichen Reisezeit aus Prag und den böhmischen Industriegebieten entweder über Wien - Südbahnhof und Graz oder – nach Eröffnung des Kara­wankentunnels 1906 und der Tauernbahn 1909 – über Klagenfurt bzw. Villach und schließlich auf den drei Bahnen nach Triest reisen.

Diesellok der Wocheinerbahn (Text: Wilhelm Berger | Foto: Gerhard Pilgram)