arrow_back |
Karst/Kras/Carso (Ortsbeschreibung, XXI. Etappe, Auszug) |
Befragt man die Bücher, wo der Karst zu finden sei, erhält man viele Antworten: Er erstrecke sich entlang der italienischen Grenze bis etwa Kozina, reiche östlich von Triest bis westlich von Ljubljana, umfasse die Gegend rund um Triest von Črni Kal bis zur Küste bei Santa Croce, Sistiana und Duino, werde vom Vipava-Tal, dem Hügelland der Brkini, dem Pivka-Tal und dem slowenischen Teil Istriens begrenzt oder sei das Gebiet von Triest bis zum Berg Nanos. Die Einheimischen, denkt man dann, wissen es wohl am besten, und so schlicht wie überzeugend ist ihre Auskunft: Der Karst ist da, wo die Erde rot ist. |
|
Auch die Etymologie ist nicht eindeutig. Das Wort »Karst« stamme von der slowenischen Region kras, als Karst bezeichne man aber auch überall am Balkan ein Gebirge aus durchlässigen, wasserlöslichen Gesteinen. Ernst Décsey, Musikkritiker und Schriftsteller aus Wien, der dem Karst zu Beginn des vorigen Jahrhunderts verfiel, weiß es für sich: »Il carso nennt der Italiener den Karst. Kras sagt der Slowene, ein Wort, dessen Wurzel Schönsein bedeutet, und man kann das Steinland nicht anders nennen: Schönland ... Lange braucht man, um es sehen zu lernen – und wann kann man es vergessen? Nein, die Schönheit quält als Erinnerung weiter, und man sieht nichts mehr vor Augen als die purpurblauen Sterne der Disteln, die wundersam aus dem Karststein brechen wie die Sehnsucht aus einem hartgewordenen Herzen. Nein, ich werde dich nie vergessen, Land der blauen Distel: ich bin dein!« Da ist der Karst also auch: in den Menschen. In ihre Herzen und Gemüter scheint er sich zu schreiben, damit sie in seinem Namen sprechen. |
|
Scipio Slataper (1888 in Triest geboren) war die erste italienische Stimme des Karstes, die man über dessen Grenzen hinaus vernahm; Srečko Kosovel (1904 in Tomaj geboren) sein slowenisches Pendant. Für beide ist der Karst eine »Landschaft des Schmerzes«, ein Spiegel der eigenen Zerrissenheit, die gut zur fin-de-siècle-Stimmung und zu den Unsicherheiten der heraufdämmernden Moderne passt. Kosovel liest im Karst Ahnungen des Todes, vielleicht des eigenen, allzu frühen; wie der Landschaft geschieht, so auch ihm: »Und meine Lippen, rissig sind sie wie der Karst, und ist mein Herz traurig, ist es traurig wie der Karst.« |
|
Düster und schwülstig sind die Bilder, die Slataper malt: »Der Karst ist eine Landschaft aus Kalk und Wacholder. Ein furchtbarer, versteinerter Schrei. (...) Bora. Sonne. Die Erde hat keinen Frieden, keine Fugen. Sie hat kein Feld, um sich auszubreiten. Jeder ihrer Versuche reißt und versinkt in den Abgrund.« Slataper verlässt Triest, um in Florenz zu studieren. In der Ferne beginnt er, die Heimat gering zu schätzen, bezeichnet Triests Kultur als selbstgefällig und substanzlos. Immer wieder flieht der Anhänger der Irredenta, der Bewegung, die für die Heimholung des »unerlösten« Landes in die italienische Heimat eintritt, in den Karst, um sich zu stählen: »Ich möchte mich wieder stark und hart machen. Die Karstluft hat aus meinem Gesicht schon die Stubenluft getrieben.« Nationalistische Schwärmereien mischen sich in seine Verse, das müde italienische Blut will er mit slawischem Geist auffrischen. 1915 fällt er auf italienischer Seite durch die Bombe eines Bosniers. |
|
Noch weniger Zeit zur literarischen Vollendung blieb Srečko Kosovel. Ihm scheint der Karst wie eine Verpflichtung, eine Bürde fast, und bis nach Ljubljana, wo er zum Studieren ist, stellt er ihm nach: »Ich weiß, diese Frage kommt noch, gewiß! Sie kommt um Mitternacht oder zu Mittag, still und ernst: ›Was hast du mir gegeben?‹ Sie kommt. Vom Karst. Als Stimme kommt sie. Zerstört meine Arbeit, verstärkt die Melancholie, in der ich lebe: ›Was hast du mir gegeben?‹« Kosovel, der, vielleicht etwas waghalsig, mit Rimbaud und Trakl verglichen wird, starb nur 22jährig in Tomaj an Meningitis. |
|
Auch einen zeitgenössischen Dichter hat der Karst heimgesucht. »Getauft« sei er hier worden, so bezeichnet Peter Handke in seinem Roman Die Wiederholung die Verwandlung, die er im Karst erfährt. »Damals, auf meiner ersten Reise, bin ich kaum zwei Wochen im Karst unterwegs gewesen, fast jeden Tag davon als jemand anderer. Nicht nur ein Spurensucher war ich, sondern auch Tagelöhner, Hochzeiter, Betrunkener, Dorfschreiber, Totenwächter. Sah in Gabrovica die aus dem Kirchturm gefallene Glocke, welche, die spielenden Kinder obenauf, schief in der Erde steckte; erschreckte in Skopo, aus der Wildnis tretend, die einsam in einer Doline harkende Greisin; zeichnete in Pliskovica in der einzigen werktags unverschlossenen Kirche, die über das Altartuch krabbelnde schwarzgelbe Hornisse; bestaunte in Hruševica, dem, wie alle im Karst, bachlosen Dorf, die steinerne Statue des heiligen Nepomuk, die man doch sonst nur an Brücken findet; trat aus dem Kino von Komen hinaus in eine Mondnacht, heller und lautloser als die Mojave-Wüste, durch die sich gerade noch Richard Widmark gekämpft hatte; (...) verneigte mich in Tomaj vor dem Sterbehaus des slowenischen Dichters Srečko Kosovel (...).« |
|
Nimmt man die Dichter beim Wort, ist der Karst also nicht nur ein Ort und nicht nur der Zustand einer Landschaft, sondern auch der einer aufmerksamen Seele. |
|
|
Im Karst bei Sežana (Text: Annemarie Pilgram | Foto: Gerhard Pilgram) |