Peter Iwaniewicz (Falter, Wien):
Festrede zum Festzug der Tiere anlässlich des 100jährigen Jubiläums der Kärntner Volksabstimmung
Foto: Johannes Puch
Was unterscheidet erwünschte von unerwünschten Lebewesen? Offenbar ihr selbstständiges, von uns nicht gelenktes Vordringen in die freie Natur, die aber bei uns eben nur mehr eine Kulturlandschaft ist.

Sehr geehrte Damen und Herren, geschätzte Festgäste, vagabundierende Umzugsteilnehmende, verehrte Tiere!
 
Vielen Dank für diese Einladung und die Gelegenheit, mich hier mit Ihnen auf eine Grenzwanderung zu begeben. Bei einem Festumzug wird naturgemäß gewandert, aber ich will mit Ihnen auch das Thema Heimat und Fremde hermeneutisch eingrenzen.
Vielleicht werde ich auch ein bisschen abgrenzen, oder sogar ausgrenzen. Das hängt davon ab, auf welcher Seite der Trennlinie man steht.
Der Titel meines Festvortrags heißt »Betrachtungen über das Verhältnis von Fremden und Einheimischen«.
Damit sind natürlich Tier- und Pflanzenarten gemeint.
Mir ist in diesem Zusammenhang bewusst, dass das p.t. Festkomitee mit meiner Einladung ein Risiko eingegangen ist. Mein Name – Iwaniewicz – verrät das Problem, denn ich bin nicht von hier.
Mein Stammbaum hat polnische, böhmische, weißrussische und auch ein paar dünne Weinviertler Zweige, ist aber sonst frei jeglicher carinthischer Wurzeln. Das ungeschriebene Gesetz Kärntner Stammtische kennt eine stringente Hierarchie, wer etwas zu sagen haben darf: Zuerst kommen Alteingesessene, dann Angeheiratete, danach folgen Zuagereiste. Später kommen Leute aus der Nachbargemeinde und am Ende dieser Hühnerleiter findet man dann Wiener und anderes G’sindl.
Aber verzeihen Sie, ich schweife ab in aberrante Gefilde, wo doch der thematische Schwerpunkt dieser Einführungsworte auf »migrantischen« bzw. »grenzüberschreitenden« Tierarten Kärntens liegen soll. Und das zu Recht, denn bei der Kärntner Volksabstimmung am 10. Oktober 1920 sprach sich zwar die Mehrheit der stimmberechtigten Bevölkerung in Südkärnten für den Verbleib in der jungen Republik Österreich aus. Aber Tiere wurden dabei nicht gefragt.
 
Sie haben eine interessante Gästeliste für ihren animalischen Umzug zusammengestellt und als Biologe fallen meinem Auge einige Besonderheiten dieser Umzugshorde auf:
Der Europäische Aal ist ein sogenannter katadromer Wanderfisch, der vom Süßwasser zum Laichen ins Meer zieht und es damit genau umgekehrt hält, wie der anadrome Lachs, welcher aus dem Meer an den Geburtsort, seinen Quellfluß zurückkehrt. Bei der hier angeführten »Ameise« haben die Kunstschaffenden zoologisch etwas ungenau gedacht. Ameisen sind eine artenreiche Insektenfamilie, von der in Österreich 122 Arten vorkommen. Auf Grund der Größe des dargestellten Nestbaus gehe ich davon aus, dass hier die Rote Waldameise, Formica rufa, gemeint ist.
Interessant ist auch die Kunstinstallation mit den Blutegeln. Gezeigt wird der Medizinische Blutegel, Hirudo medicinalis. Es hätte sich aber auch der in Österreich und Slowenien vorkommende Europäischen Landblutegel (Xerobdella lecomtei) als grenzüberschreitendes Tier geeignet und vor dem wir keine Angst haben müssen, da er sich nur von Regenwürmern und Schnecken ernährt.
Die Carnica-Honigbiene war ursprünglich nur südlich der Alpen beheimatet. In den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg wurde sie im ganzen deutschsprachigen Raum verbreitet und hat dabei die nördlich der Alpen vorkommende Dunkle Europäische Biene fast vollständig verdrängt. Gründe waren die größere Volksstärke und der damit zu erreichende höhere Honigertrag.
Der Stieglitz gehört zur Familie der Finken. Er ist ein sogenannter Teilzieher, also ein Zugvogel, bei dem im Winter nur ein Teil der Population am Vogelzug teilnimmt und in den Süden zieht. Manche jedoch verbleiben als Standvögel in ihrem Brutgebiet. Der Name Stieglitz wurde aus dem Slawischen ins Deutsche entlehnt und ist die lautmalerische Wiedergabe seines Lockrufs.
 
Es freut mich, hier auch so ungewöhnliche Tierarten wie einen Süßwasserschwamm zu sehen. Diese Gruppe der Hornkieselschwämme sind seltsame Wesen, denen Nervenzellen, innere Organe, Muskeln, Sinnesorgane Mund oder Darm fehlen. Wer einen lebenden Süßwasserschwamm zu Gesicht oder besser zur Nase bekommt, dem wird der intensive, stechende an Jod erinnernde Geruch im Gedächtnis bleiben.
Und nicht zuletzt der Waldrapp, eine in Österreich schon ausgerottete Vogelart, der beim erfolgreichen Versuch der Wiederansiedlung aber das tradierte Wissen fehlte, wie die Zugroute ins Winterquartier verläuft. Man begleitete die Vögel anfangs sogar mit Ultraleichtflugzeugen und wies ihnen den Weg in die Toskana.
Gestatten sie mir hier eine kleine Ergänzung dieser Liste, mir fehlt die Gottesanbeterin, Mantis religiosa, die sowohl in Kärnten als auch in Slowenien beheimatet ist, und die nicht nur zoologisch, sondern – nomen est omen – auch kulturell und spirituell in diese Region passt.
Allen diesen Tieren ist eine unstete, wandernde, grenzüberschreitende Lebensweise zu eigen.
Sie haben es tunlich vermieden, Endemiten, also nur in einem bestimmten Gebiet wie zum Beispiel Kärnten vorkommende Arten aufzunehmen. Die Nationalblume Kärntens, die Wulfenia, ist ihr bekanntester botanischer Endemit, da sie nur auf dem Gartnerkofel in den Karnischen Alpen gefunden wird. Bei anderen in Kärnten endemischen Tierarten fällt mir nur eine Gattung der Kurzflügelkäfer namens Leptuse und die Sackträgermotte Brevantennia triglavensis ein, die aber für einen Festumzug wohl zu wenig hergegeben hätten.
 
Das bringt uns zu der zentralen Frage dieser Veranstaltung, was denn die Heimat für uns und Tiere bedeutet.
Heimat meint immer nur die vom Menschen geformte Kulturlandschaft, Wildnis hingegen bewundern wir hingegen für ihre Ungezähmtheit und Eigenmächtigkeit jenseits unserer Einflussnahme. Leben wollen wir aber nur in einer uns vertrauten, bekannten und kontrollierbaren Umgebung.
Heimat bezeichnet daher nicht nur einen geografischen Raum, sondern vielmehr eine Idee. Heimat ist dem Boden verbunden, die Nutzungsformen dieser Kulturlandschaft sind über viele Generationen an die räumlichen Gegebenheiten angepasst und die Bewirtschaftungsformen tradiert worden.
Schutz der Natur und Schutz der Heimat sind damit grundsätzlich konservierende und konservative Ideen, die von Veränderung, von Neuem und von Fremdem bedroht werden.
 
Immer wieder kann man in den Medien Aussagen wie diese lesen: »Das Grauhörnchen ist aus Nordamerika, seiner ursprünglichen Heimat, vermutlich mit Schiffen auf die britischen Inseln gelangt und droht dort das einheimische rote Eichhörnchen zu verdrängen.«
Gibt es so etwas wie eine natürliche Heimat für ein Lebewesen?
Diese Frage hat in unserer globalisierten Welt eine immer größere Bedeutung bekommen. Denn mittlerweile reisen nicht nur Menschen mit Autos, Schiffen, Eisenbahn und Flugzeugen um die Welt, sondern auch Tiere und Pflanzen. Manche kommen als unabsichtliche »blinde Passagiere« in neue Länder, wie zum Beispiel die Spanische Wegschnecke, die sich mit den Gemüsetransporten von einem kleinen ursprünglichen Gebiet in Südwest-Frankreich mittlerweile über ganz Europa ausgebreitet hat. Genau genommen müsste es eigentlich heißen: »… die gegen ihren Willen verschleppt wurde.«
Andere Arten, vor allem Nutzpflanzen wie die Kartoffel, Mais oder die Tomate, haben wir ganz absichtlich aus anderen Kontinenten importiert. In der Hochblüte des Kolonialismus importierte man zur vermeintlichen Bereicherung der heimischen Fauna exotische Tiere wie Kängurus nach England und exportierte vice versa Kaninchen, Katzen und Hunde nach Australien, wodurch sich – freundlich formuliert – das ökologische Gleichgewicht massiv verschob. Ursprünglich sprach man noch ganz wohlmeinend von Adventivarten, so wie man neue Gäste freundlich begrüßt. Die Freude verging aber angesichts mancher Probleme in der Land- und Forstwirtschaft und man entschied sich, diese wissenschaftlich neutral als Neobiota – Neulebewesen – zu bezeichnen. Ein seltsamer Begriff mit dem Beigeschmack von Retorte und Frankenstein. Jetzt verwendet man offiziell den Ausdruck »invasive Arten«. Mit dem militärischen Begriff »Invasion« erzeugt man aber das – falsche – Bild einer geplanten Attacke durch feindliche Mächte. Tatsächlich war fast immer die lokale Bevölkerung daran aktiv oder passiv schuld, dass diese Lebewesen aus ihren ursprünglichen Lebensräumen verschleppt wurden.
So zum Beispiel der Asiatische Marienkäfer, den man 1982 nach Europa importierte, um in Glashäusern andere Insekten zu bekämpfen. In der freien Natur hingegen sind sie konkurrenzstärker als die heimischen Marienkäferarten und stören das bestehende Gleichgewicht.
 
Das Land Tirol beklagte erst vor Kurzem, dass jede vierte Art, die man dort beim Spazierengehen sieht, bereits gebietsfremd sei. Dazu gehören, für viele sicher überraschend, auch ganz bekannte Tier- und Pflanzenarten wie der Fasan, der ursprünglich nur in Mittel- und Ostasien lebte, die Regenbogenforelle aus Nordamerika oder auch der Rosskastanienbaum aus dem Balkan.
Was passt uns an diesen »gebietsfremden« Arten nicht? Das erinnert an ein Zitat aus dem französischen Comic »Asterix, wo der alte, xenophobe Methusalix seine Kritik an den Zuwanderern treffend formulierte:
»Ich habe nichts gegen Fremde. Viele meiner besten Freunde sind Fremde. Aber diese Fremden sind nicht von hier«.
»Einwanderer«, die den »Einheimischen« den Lebensraum streitig machen, ist ein Argument, das wir auch aus anderen, gesellschaftspolitischen Debatten kennen.
Und auf Grund dieser Parallelen zwischen Natur- und Heimatschutz wird diese Debatte in beiden Welten sehr heftig geführt.
Leider erinnern die Argumente sprachlich oft an die Rassenbiologie des Naziregimes: Zuwanderer verdrängen heimische Lebewesen durch Konkurrenz, Vermischung des Erbguts oder Übertragung von Krankheiten.
Dennoch oder sogar deswegen sah sich die Europäische Kommission 2016 veranlasst, eine Liste mit mittlerweile 60 invasiven Tier- und Pflanzenarten herauszugeben, die als Bedrohung der europäischen Artenvielfalt gesehen werden und zu deren Bekämpfung die Mitgliedsstaaten verpflichtet sind.
Der Verdacht liegt nahe, dass nicht sachliche Gründe, sondern vielmehr moralische Werthaltungen für diese heftigen Reaktionen auf diese »falsche« Natur verantwortlich sind.
Was unterscheidet erwünschte von unerwünschten Lebewesen? Offenbar ihr selbstständiges, von uns nicht gelenktes Vordringen in die freie Natur, die aber bei uns eben nur mehr eine Kulturlandschaft ist.
Damit zeigen sich diese Zuwanderer aber als genau jener Teil der Natur, den wir sonst durch Kultivierung kontrollieren. Zuwanderer sind mit ihren nicht sesshaften, wild wuchernden Qualitäten somit die Antithese zu unserer Kultur und damit keine Vertreter der »guten«, sondern einer »bösen« Natur, die von uns beherrscht werden muss.
Ich spreche übrigens noch über Tier- und Pflanzenarten.
 
Sie sehen, wenn man zwei Antithesen wie Natur und Kultur zusammenbringt, dann kann es schnell kontroversiell werden.
Die Grenzen des sogenannten »guten Geschmacks« sind bei der Integration von Lebewesen in Kunstaktionen immer schnell erreicht. Als der Bildhauer und Konzeptkünstler Gottfried Bechtold ein – wohlgemerkt – bereits totes Schwein mit einer Dampfwalze überfuhr, schien die Gesellschaft plötzlich nur aus überzeugten Veganern zu bestehen, die sich noch nie gefragt haben, unter welchen Umständen Tiere sonst gehalten werden und in Schlachthöfen zu Tode kommen.
 
Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Tiere!
Auch Sie vereinen mit Ihrem Festumzug heute die Gegensatzpaare Natur und Kultur. Widerlegen Sie Friedrich Schiller, der einst reimte:
»Der Schein soll nie die Wirklichkeit erreichen, und siegt Natur, so muss die Kunst entweichen.«
Und beherzigen sie ein weiteres Zitat, das ich mir von André Heller geborgt und etwas verbogen habe:
»Die wahren Grenzen sind im Kopf, und sind sie nicht im Kopf, dann sind sie nirgendwo.«
 
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!

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